Im äußersten Nordwesten von New South Wales, im australischen Outback, liegt das verschlafene Städtchen Brewarrina. Bre, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen, liegt an den Ufern des Barwon-Flusses und blickt auf eine lange Geschichte indigener Australier zurück. Früher war die Stadt Treffpunkt für über 5000 Menschen. Obwohl die Einwohnerzahl mittlerweile auf nur 1000 Einwohner geschrumpft ist, schafft es die Stadt – durch ihre Initiativen am Stadtrand – sowohl der lokalen Bevölkerung als auch einer der größten Industriezweige Australiens gute Perspektiven zu verschaffen.
Die Wollindustrie ist seit vielen Generationen ein integraler Bestandteil des Erbes Australiens und seiner Familien. An der Merriman-Schererschule in Brewarrina ist ein Mann fest entschlossen, die Tradition des Scherens am Leben zu erhalten und seinen Schülern darüber hinaus die Chance auf eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Die Merriman-Schererschule wurde 2010 eröffnet und befindet sich auf einem 16.000 Hektar großen Grundstück. Mittlerweile hat die Schule das Leben von über 150 Schülern, von denen die meisten zwischen 15 und 30 sind, verändert. Die Schule gehört der Indigenous Land Corporation. Für den Betrieb der Schule erhält die Organisation neben Geldern vom Department of the Prime Minister auch Unterstützung von der Australian Wool Innovation. Jedes Jahr gibt es an der Schule zwei 16-wöchige Kurse, die mit einem Certificate Two in Rural Operations abschließen. Die Ausbildung zielt darauf ab, jungen indigenen Australiern Arbeitsplätze in der Wollindustrie zu verschaffen.
Ian Bateman – oder „Boof“, wie man ihn in der Branche nennt – hat über 50 Jahre Erfahrung im Scheren und ist der leitende Ausbilder der Schule. Bateman ist selbst indigen und weiß, wie wichtig es für indigene Australier ist, eine Ausbildung zu erhalten, die ihnen die Chance auf einen Arbeitsplatz bietet. „Über die Hälfte unserer Schüler tritt nach dem Abschluss eine Vollzeitstelle an”, erzählt Bateman stolz. „Neben dem Scheren lernen die Schüler alles, was auf einer Schaffarm zu tun ist: Zäune bauen, Tröge befestigen, Gatter bauen, Wollhandel, Wolle pressen und Viehmanagement. Nicht alle wollen als Scherer weiterarbeiten, aber wenn sie fertig sind, haben sie jede Menge neuer Fertigkeiten erworben.“
Bateman zufolge liegt eine der größten Schwierigkeiten am Anfang eines Kurses darin, die Jugendlichen zu motivieren, aufzustehen und fit und gesund zu werden. Deswegen beginnt jeder Morgen mit 9 Kilometern Laufen, Gehen oder Joggen. Der Koch der Schule bereitet den Schülern vor Ort nahrhafte Mahlzeiten und alle 14 Tage kommt ein Sportwissenschaftler vom Bourke & Brewarrina Aboriginal Health Services, der mit den Jugendlichen Sport macht und ihre Fortschritte in Bezug auf Kraft und Ausdauer während der 16 Wochen misst. „Die Schüler morgens aus dem Bett zu bekommen, ist eines unserer größten Anfangsprobleme“, erklärt Bateman. „Die Kids sind es gewöhnt, sich die ganze Nacht auf der Straße herumzutreiben oder fernzusehen und erst morgens um sechs schlafen zu gehen. Diesen Rhythmus muss man also erst mal durchbrechen. Das ist sowohl für die Jugendlichen als auch für uns harte Arbeit, aber wir schaffen es. Viele ehemalige Auszubildende rufen mich ab und zu an und erzählen mir, wo sie gerade arbeiten und dass sie sich nach wie vor an ihren Gesundheitsplan halten.“
Eine Schererschule scheint ein ungewöhnlicher Ort für Jugendliche zu sein, um Fähigkeiten zu erwerben, mit denen man sich ein gutes Einkommen erarbeiten kann. Aber die Ausbildung an der Merriman-Schererschule hat vielen Absolventen die Möglichkeit eröffnet, in Vollzeit zu arbeiten und die Welt zu bereisen. Australische Scherer werden nämlich nicht nur auf Heimatboden beschäftigt, sondern finden auch in den USA, in Großbritannien oder Europa Arbeit. Für die Dauer des 16-wöchigen Kurses wird von den Auszubildenden erwartet, dass sie eine branchenübliche Stundenzahl arbeiten. Hierfür erhalten sie eine Ausbildungsvergütung nach dem National Training Award. Am Ende ihrer Zeit in der Merriman-Schule sollen die Auszubildenden in der Lage sein, mindestens 80 Schafe pro Tag zu scheren. Mehr als 50 Prozent der Absolventen erhalten nach ihrem Abschluss sofort einen Arbeitsvertrag. Somit können viele dann für ihre Familien sorgen und ein Haus kaufen.
„Für mich war das eine Gelegenheit, die man nur einmal im Leben bekommt“, sagt die 22-jährige Auszubildende Morgan Wrigley. “Ich bin praktisch mit der Wollindustrie großgeworden. Mein [Vater] ist Scherer und meine Brüder arbeiten in der Wollindustrie. So bin ich einfach bei dieser Familientradition geblieben. Neben den landwirtschaftlichen Fähigkeiten habe ich gelernt, dass Ernährung und Fitness wichtig sind und natürlich gesundes Essen, damit man seine Arbeit auch bewältigen kann.“

Anders als Morgan wusste die 16-jährige Sophie Noble bereits ziemlich am Anfang des Kurses, dass das Scheren nichts für sie ist. Was ihr aber sehr gut gefällt, ist der Wollhandel – und in dem Bereich will sie auch nach ihrem Abschluss weiterarbeiten. Noble, die aus der kleinen Stadt Walcha in den nördlichen Tablelands von New South Wales stammt, entschied sich für die Merriman-Schererschule, weil sie neue Dinge lernen und etwas anderes ausprobieren wollte. „Als ich hier ankam, wollte ich einfach alles lernen“, erklärt sie. „Ich habe gelernt, wie man Zäune baut, ich habe Wool-Classing, Scheren und Crutching gelernt, aber meisten hat mich der Wollhandel begeistert und deswegen will ich auch in der Wollbranche bleiben und mich weiterbilden, wenn ich hier fertig bin. Ich habe hier ein paar gute Freunde gefunden und wenn ich jemandem einen Rat geben kann, dann den, sein Bestes zu geben und nicht aufzugeben.“
Die körperlichen und psychischen Veränderungen bei den Schülern nach diesem Vor-Ort-Kurs sind unglaublich, bemerkt Batemann, der auf jeden einzelnen Schüler stolz wie ein Vater ist. „Wir haben hier die einzige Schererausbildungseinrichtung in Australien, die die jungen Leute von der Straße holt und aus ihnen gute, verantwortungsbewusste junge Menschen macht, die einem bedeutsamen Beruf nachgehen und selbstständig leben können. Und das ist für mich ein echter Erfolg.“